Heute hatte sich Dieter schon um fünf Uhr auf die Dachterrasse geschlichen. Ich folgte ihm um viertel vor sechs. Der Mond war eine liegende Sichel, der Himmel sternenklar, über uns die Milchstraße. Die Himalayakette des Annapurnagebirges erstreckte sich zum Greifen nah von West nach Ost vor unseren Augen. Und ganz weit hinten, rechts, würde gleich die Sonne aufgehen.
Ein Paar aus Warschau kam hinzu. Sie hatte mich gestern – wir waren gerade angekommen – mit tausend Fragen gelöchert, ich war aber nicht gesprächig. Bei Dieter hatte sie mehr Glück. Heute Morgen tat sie mir leid, weil sie die ganze Nacht gehustet hatte. Aber ein nettes Kennenlernen war gescheitert. Links unten neben der Dachterrasse begann das nepalesische Arbeitsleben. Überall, wo Nepalesen ein gut ausgestattetes Hotel führen, gibt es Arbeit für die Armen. Aus zwei heruntergekommenen, winzigen Bruchbuden – gekocht wurde am Feuer unter einer Plane – krochen mindestens zwölf Männer hervor und verrichteten nacheinander ihre Morgentoilette. Es wurde gelacht, sich freundlich begrüßt – ein paar waren wohl erst heute früh mit dem Motorrad angekommen – ab und zu zu uns hoch geschaut: Da saßen sie, die unerreichbar reichen Touris aus Europa! Schwer bewaffnet mit Kameras! Wir wandten unseren Blick schnell nach Osten, zur Sonne. Das wollten wir doch fotografieren!
Das Frühstück ließen wir uns hoch bringen. Wir hätten hier gern noch den ganzen Tag gesessen. Dann ging es zwei Stunden abwärts: drei singende Kinderbarrieren – wir hatten unser Kleingeld parat – eine nepalesische Schaukel, kleine Trinkpausen unter Bäumen, die uns verdammt an deutsche Linden erinnerten (leider konnte auch Raju nicht bei der genauen Baumbestimmung helfen) mit Blick ins Tal – bald würden hier sicher ausgebaute Straßen hochführen, und die vielen Lastenträger sich eine andere Arbeit suchen müssen und noch ärmer werden.
Nach zwei Stunden erreichten wir ein Bushäuschen, wo unser Fahrer uns abholen sollte. Zehn Minuten Wartezeit. Ein älterer, freundlicher Nepalese witterte seine Chance: er verkaufte mir ein paar Ohrringe. Um halb elf waren wir zurück im Hotel. Ich schenkte Raju und Sanjaya meinen geliebten, mindestens 35 Jahre alten Daunenschlafsack, innen Baumwolle. Er hatte mir bei beiden Touren ein letztes Mal hervorragende Dienste erwiesen. Wir waren den beiden so dankbar! Sie hatten uns so einfühlsam umsorgt und geleitet und informiert und gewarnt – unbezahlbar toll! Und wie wir immer vermutet – und später erfahren haben – für einen Hungerlohn: zwölf Euro am Tag, der Träger wahrscheinlich nicht mal die Hälfte! Raju wollte uns abends in ein Restaurant seines Freundes führen. Das nahmen wir gern an. Pünktlich um halb sieben holte er uns mit seinem 20-jährigem Freund, Usong, Assistant-Guide mit Englischkenntnissen, vom Hotel ab. Im “20 Fourteen” wurden wir dem Hoteleigner und einer ganzen Menge junger Männer aus Rajus Dorf vorgestellt, die alle irgendwie in der Tourismusbranche arbeiten: einzige Chance auf ökonomischen Aufstieg, sonst ab ins Ausland. Wir setzten uns oben auf die Empore, auf einer Riesenleinwand lief das Premier-League-Spiel Liverpool gegen QPR: wir erkannten den italienischen Star Mario Balotelli. Liverpool hat gewonnen. Es war ein total netter Abend. Raju lässt an seiner eigenen Homepage arbeiten. Wenn sie fertig ist, soll sie an dieser Stelle veröffentlicht werden und ihm hoffentlich viele Touristen bescheren.