Von Rahué nach Villa La Angostura

Wir wussten, dass uns heute die längste Tour auf unserer Nordpatagonien-Reise bevorstehen würde, etwa 200 Kilometer. Da mussten wir bei den argentinischen Straßenverhältnissen schon mal einen ganzen Tag für einplanen. Zunächst ging es die 50 Kilometer über die bekannte Schotterpiste zurück – es gibt nur diese Nord-Südverbindung, die Ruta Nacional 23, durch das karge, bergige und so menschenleere Land, das aber immer wieder durch seine bizarren Felsformationen und Ausblicke fasziniert. Wieder leuchteten die Anden in den herrlichsten Farben und forderten uns zu Fotostopps heraus.

Und wieder tauchte auch der Volcán Lanín wolkenlos und erhaben über allen anderen Bergen auf. Tschüß, du schönster Vulkan der Welt! Dies wird sicher das einzige Mal in unserem Leben bleiben, dass wir dich anschauen kommen. Gegen Mittag waren wir in San Martín de los Andes, haben eine Kaffee- und Einkaufspause eingelegt, und schon ging’s weiter. Wir konnten aufatmen: asphaltierte Straße. Aber die Ruta Nacional 40 befand sich auf weiten Strecken zwischen San Martín und Villa La Angostura gerade im Ausbau. Es ging langsam voran, immer wieder einspurig, an Baustellen vorbei, auf Schotter, es staubte. Am Ende von solch einer Pistentour sieht nicht nur das Auto völlig verdreckt aus, sondern auch alles, was sich darin befindet. Es macht überhaupt keinen Sinn, seine Klamotten zu waschen, sie sind beim ersten Gegenverkehr, selbst wenn man das Fenster schnell genug hochgekurbelt bekommt, gleich wieder verstaubt. Und nach dem herrlichsten Bad im kristallklaren Wasser der Seen muss man immer wieder in die staubigen Hemden und Hosen steigen. Das fand zumindest ich unangenehm. Dieter meinte, ich solle mich nicht so anstellen. Auch der Sand an den Stränden ist nicht mit unserem an Ost- oder Nordsee vergleichbar. In Patagonien ist der Strand grob-oder fein-steinig, meist grau oder ganz vulkanisch schwarz, und immer staubig. Kurz vor La Angostura haben wir eine Badepause am Lago Espejo Grande gemacht. Die Badestellen sind hier meist Campingplätze, wo man grillen kann oder auch einfach sein mitgebrachtes Picknick verzehrt.

Wir hielten es wie die Argentinier und packten unsere Stullen aus. Um sechs kamen wir bei unserer Unterkunft in La Angostura an, im noblen Villenvorort Puerto Manzano. Wir fuhren durch einen Raulí-Wald und kamen an Privatstränden und -häfen, an wunderschön gelegenen Luxushotels mit Spas und Swimmingpools vorbei, bis wir unsere damit verglichen eher bescheidene aber nette Pension mit Waldblick erreichten. Wir fuhren zum Hafen und schauten uns schon mal an, wo wir morgen unsere Wandertour starten könnten. In der Strandkneipe gab es einen frischgepressten Orangensaft und einen Sonnenuntergang vom Feinsten. Langsam versank die strahlend goldene Kugel hinter den Anden im Westen – die Himmelsrichtung blieb diesmal beruhigend auch auf der Südhalbkugel gleich.

Wir haben uns noch das Zentrum von La Angostura angeschaut – es war bombastisch viel los, ein Schokoladengeschäft neben dem anderen, die nobelsten Sportläden, Restaurants, Bars, Cafés – hier boomte der Tourismus. Und gegessen wird abends ab halb zehn. Kein Wunder, dass es so viele dicke ArgentinierInnen gibt. Letzteres fiel besonders Dieter ständig auf.

 

Von Aluminé nach Rahué

Der gestrige Tag hat uns so gut gefallen, dass wir mit dem Faulenzen, Lesen und Entspannen heute gleich – naja zumindest nach 40 Kilometern Schotterpiste – weitergemacht haben. Wir sind nach dem Frühstück etwa elf Kilometer zu unserer nächsten Unterkunft gefahren, haben unser Gepäck abgeladen, und dann ging es zum Lago Quillen.

Staubige, steinige Piste entlang durch fast menschenleeres, schroffes Land – und doch plötzlich ein Hinweis, dass man die Geschwindigkeit reduzieren sollte – wir kamen an einer Schule vorbei. Sie war leer, es sind ja gerade Ferien. Aber man fragt sich natürlich, wie in dieser Einöde überhaupt ein geregelter Schulunterricht  stattfinden soll? Das letzte Stück zum See wurde noch unwegsamer, eine schmale Aneinanderreihung von Schlaglöchern – Dieter und der Chevi haben sie genial gemeistert. Und dann: ein traumhafter Campingplatz mit ungetrübtem Blick auf den wolkenlosen Volcán Lanín.
Das war atemberaubend. Der Mapuche-Zeltplatzwart verkaufte uns noch Käse, Brot und Äpfel – so dass auch eventuell aufkommende Hungergefühle am Mittag gestillt werden konnten. Es waren noch ein paar andere Urlauber am Strand. Eine Frau ging mit einer Angel ins Wasser – es war die erste Frau, die ich jemals angeln gesehen habe – und schon kurz darauf kam sie mit einem dicken Fisch in der Hand wieder heraus. Stolz ließ sie sich damit von den anderen fotografieren. Wir haben es nur von weitem beobachtet, wollten erstmal ankommen. Die Provinz Neuquén in Nordpatagonien mit ihren vielen Seen und Flüssen gilt als Paradies für Angler. Schade, dass wir vom Angeln null Ahnung haben, und es noch nie ausprobiert haben. Wir haben weiter in unseren Büchern gelesen, gebadet – das Wasser war erstaunlich warm, seicht und klar, unser Blick immer wieder fasziniert auf den schönen Vulkan gerichtet. Wo war eigentlich Norden? Wo Süden? Der Vulkan müsste von uns aus im Süden liegen. Aber die Sonne stand zur Mittagszeit eindeutig gegenüber, also im Norden. Nach einigem Hin-und Her, dem Austausch von viel Halbwissen und Klugscheißerei und einer Kommunikationspause kam jedem von uns einzeln die Erleuchtung: Natürlich lag der Vulkan von uns aus im Süden, und natürlich stand die Sonne mittags im Norden. Wir sind ja auf der Südhalbkugel, und da nimmt sie eben zur Mittagszeit im Norden ihren höchsten Lauf. Wir waren halt beide vorher noch nie auf der anderen Seite des Äquators, da verirrt man sich schon mal in Gewohnheiten, die nicht überall funktionieren. Aber schön, wenn Verwirrung und Unsicherheit Logik und Klarheit weichen. Wir hatten die Orientierung wiedergefunden.


Erst gegen halb sieben machten wir uns auf den holprigen Rückweg. Abends ließen wir uns in unserer Pension bekochen: Es gab einen leckeren Rindereintopf. Dass die Argentinier immer so spät essen – wir sind um halb neun immer die ersten Gäste – werde ich allerdings wohl nie verstehen.

Aluminé Tag 2

Wir haben in dieser schönen Casa de Campo Urlaub gemacht: Gelesen, gefaulenzt, uns gesonnt – einfach herrlich.

Heute mal keine Schotterpisten fahren tat uns beiden gut. Dieter wird seinen Krimi “Drei Minuten mit der Wirklichkeit” von Wolfram Fleischhauer, der in Buenos Aires spielt, morgen sicher schon durch haben, dieser Schnellleser. Ich habe endlich auch mal wieder ein Buch angefangen – spielt auch in Buenos Aires – “In Zeiten von Liebe und Lüge” von der Französin Hélène Grémillion. Eine Psychogeschichte, die um einen Psychiater kreist, der verdächtigt wird, seine Frau ermordet zu haben. Als wir gegen 16 Uhr dann etwas Appetit bekamen, sind wir nach Aluminé gefahren, wollten uns das Örtchen doch wenigstens mal anschauen. Es war Sonntag und absolut tote Hose. Nur auf einem Campingplatz am Río Aluminé waren ein paar Urlauber, spielten ein paar Kinder im Wasser oder sah man ein paar Angler. Wir setzten uns in den Camping-Imbiss und schauten dem lockeren Treiben bei Pizza, Cola und Matetee zu. Gegen 19 Uhr fuhren wir zurück und waren satt, so dass wir Marisa enttäuschen mussten, als sie wieder anbot, uns ein sicher 10mal leckereres Menü als unsere Campingpizza zu kredenzen. Zum Glück war inzwischen eine Familie mit drei Kindern angekommen, die sich gern von ihr verwöhnen ließ.

Von San Martín de los Andes nach Aluminé

Vorm Auschecken haben wir die gute Internet-Verbindung genutzt, um unseren Blog auf den neuesten Stand zu bringen, vor allem Bilder hochzuladen. San Martín hat uns gefallen, hier kann man gut auch länger Urlaub machen. Vor allem ist bis halb neun abends Sonne am Strand. Wären wir gestern nicht zu spät dran gewesen, hätten wir auf jeden Fall im Lácar See gebadet. Heute, vor der Weiterfahrt, hatten wir keine Lust. Wir kauften noch Wasser und etwas Obst ein, und dann – kamen wir am Ché-Guevara-Museum vorbei.

Das mussten wir denn doch angucken. Viele schöne Fotos vom jungen Ché auf großen Tafeln und dazu Briefe von ihm an seine Kinder und Eltern. Und Tagebucheintragungen, die er während seiner Reise durch Argentinien und besonders natürlich während seiner Station in San Martín notiert hat. Er mochte dieses Stück Erde offensichtlich, auch wenn er nach der Befreiung der Menschheit am liebsten mit seinen Söhnen auf den Mond wollte – zum Ärger seiner Tochter wollte er nur seine Söhne mitnehmen, dieser Macho! – . Naja, und nach allem, was wir inzwischen so wissen, pflastert so manche Leiche seinen revolutionären Weg, was meinen Sinn für Revolutionsromantik jeglicher Art in den letzten Jahren erheblich gedämpft hat. Trotzdem nett, dass hier seiner guten Taten gedacht und daran erinnert wird, dass der Kampf um ein menschenwürdiges Dasein auf dieser Erde weitergeht. Dann endlich kamen wir los. Wir sind an den Lago Tromen gefahren, vor allem, um den Volcán Lanín von noch näher dran, von Norden aus, zu sehen. Zu Dieters großen Enttäuschung war die Spitze heute immer hinter einer Wolke verborgen.

Die letzten 20 Kilometer ging es wieder eine Schotterpiste entlang. Den Weg zum See runter sind wir zu Fuß gegangen. An den Bäumen standen Schilder, um was für eine Spezie es sich handelte, richtig super!

Nach etwa drei Kilometern kroch uns ein verführerischer Duft von argentinischem Steak in die Nase, und wir dachten schon, dass wir hier etwas zu essen bekämen. Nein, es war nur ein Grillplatz, der von Argentiniern und Chilenen als Wochenendausflugsziel genutzt wurde. Wir holten unsere Äpfel und Apfelsinen raus und dann: haben wir tatsächlich gebadet. Kristallklares, kaltes, weiches Wasser, höchstens 18 Grad. Allmählich stellte sich ein Gefühl von Urlaub und Entspannung ein.

Gegen halb vier ging es weiter, wieder zurück die 20 Kilometer Schotterpiste, dann ein größeres Stück asphaltierte Straße, bis zur Kreuzung nach Aluminé. Aber was war das? Oh je! Oh Graus! Die ganze Route Nacional 23 hoch nach Aluminé war schlecht ausgebaut, staubig, holprig und mit der Bezeichnung Straße falsch beschrieben. 50 Kilometer ging es durch menschenleeres, raues, hügeliges Land. Würde unser alter Chevi das wuppen? Nur selten markierten ein paar Spitzpappeln ein sich nahendes Gehöft oder eine Mapuche-Siedlung. Wir fuhren immer am Fluss entlang, dem Río Aluminé, und ab und zu sahen wir Angler auf einem  Campingstuhl ihrem ruhigen Hobby nachgehen.

Erst um 19 Uhr kamen wir an unserer Herberge an. Ein Paradies nach dreieinhalbstündiger Fahrt über Holperpisten. Marisa und Daniel betreiben diese Casa de Campo und erwarteten uns schon.1999 haben sie das Grundstück mit einem alten Bauernhof erworben und ihr Projekt gestartet. Für sich und ihre zwei Töchter, jetzt 21 und 23 Jahre alt, haben sie ein schickes Wohnhaus errichtet, der alte Bauernhof wurde zur gastlichen Wohn- und Essstube für Gäste ausgebaut – Marisa kocht und im Winter malt sie – und vier bis fünf Ferienunterkünfte, komfortabel und modern eingerichtet, können im Sommer vermietet werden.

Auch hier säumen Säulenpappeln das Grundstück, rauschen angenehm im Wind und spenden Schatten. Man genießt eine spektakuläre Aussicht auf die umgebende Landschaft. Wir waren hungrig und nach einer Runde Duschen und Ausruhen servierte uns Marisa ein königliches Menü. Die lange Fahrt hierher hatte sich schon mal gelohnt.

San Martín de los Andes Tag 3

Wir fuhren gegen zehn Uhr los, auf zum Vulkan, der als schönster der Welt gilt, zum Volcán Lanín. Unser Tank war zwar noch halb voll, aber ich konnte Dieter überreden, bei der nächsten Tankstelle, an der man nicht allzu lange würde warten müssen, noch einmal zu tanken. In der argentinischen Pampa vor den Nationalparks weiß man ja nie! Wir fuhren bis Junín auf einer gut ausgebauten Straße, und dann ging’s wieder auf eine staubige Schotterpiste, die RP 61.

Wir wollten zu dem See mit dem Zungenbrechernamen Huechulafquen, wir können ihn immer noch nicht auswendig und werden ihn wohl morgen trotz Übens doch wieder vergessen haben. Beim Eingang zum Nationalpark Lanín mussten wir pro Person umgerechnet 6,50 Euro zahlen, das war in Ordnung. Englisch konnte dort niemand und alle Info-Broschüren waren nur auf Spanisch. Nach 30 Kilometern sollten wir das Dörfchen, oder besser die Ranger Station Puerto Canoa erreichen, von wo aus Wanderwege zum Vulkan führen sollten. Allerdings hätten wir dazu schon früher aufbrechen müssen. Der interessanteste Fußweg hin und zurück hätte sieben Stunden gedauert, und die Nationalpark-Ranger hatten festgelegt, dass man sich vor 11 Uhr auf den Weg zu machen hätte, aus Sicherheitsgründen. Das konnten wir also vergessen. Als endlich der Lago Huechulafquen vor uns auftauchte, war es tatsächlich ein überwältigender Anblick: ruhiges blaues Wasser, dahinter bizarre Felsformationen, und das alles sahen wir durch Pehuén und Raulí-Bäume hindurch, die schon zu Dinosaurierzeiten hier gewachsen sein sollen. Gegen halb eins waren wir in Puerto Canoa, und zum zweiten Mal wollte es das Schicksal, dass wir genau zu der Zeit dort eintrafen, als ein Boot ablegen sollte, diesmal ein Katamaran.

Der junge Mann, der den mit uns etwa 50 anderen Touristen an Bord etwas über den Nationalpark, den See und die Mapuche-Bewohner dieser Region erzählte, sprach schnelles Spanisch und kein Englisch. Das war enttäuschend. Eine Woche Auffrischkurs in Buenos Aires und die vielen vorangegangenen Versuche, Spanisch zu lernen, waren nicht ausreichend, um ihn befriedigend verstehen zu können. Die einzige Information, die er uns auf Englisch gab, war auch noch falsch, dass nämlich der See stellenweise 500 Meter tief sei – auf dem Schild hatten wir etwas anderes gelesen. Er hatte offensichtlich nicht viel Ahnung und nur seinen spanischen Text auswendig gelernt. Immerhin haben wir gesehen, dass wir durch eine beeindruckende Lavalandschaft fuhren. Und überhaupt: Die Fahrt auf dem Boot bei herrlichem Wetter hat Spaß gemacht. Zum Schluss fuhren wir dann auf ihn zu, den schneebedeckten Volcán Lanín. Er überragte mit seinen 3776 Meter alle anderen Erhebungen, und obwohl seine Spitze zunächst noch von einer Wolke verdeckt wurde, konnten wir ihn später in seiner ganzen Pracht bewundern.

Gegen 15:30 Uhr machten wir uns auf den Heimweg. Zurück durch die Araukarien- und Raulíwälder, über Brücken, die in Deutschland wegen akuter Sicherheitsmängel von keinem Auto hätten befahren werden dürfen – mir war manchmal ganz schön mulmig! – auf einer Schotterpiste durch die nordpatagonische Schweiz, den Volcán Lanín im Rücken und beschwingende Gitarrenmucke von Peter Horton und Sigi Schwab aus den Boxen in den Ohren. Kein Roadmovie könnte das toppen.